Erzdiözese München und Freising
Fachbereich Weltanschauungsfragen
Informationen zu Geistlichem Missbrauch

Alles, was das christliche Glaubensleben ausmacht, theologische Überzeugungen, kirchliche Strukturen, Rituale und religiöse Praktiken, kann zur unsachgemäßen Einschränkung von Freiheit und zu Unterdrückung führen, kann bewusst missbraucht werden. Spiritueller Machtmissbrauch trifft daher Theologie und Kirche ins Herz!

Es geht nicht (nur) um beliebige oder zeitbedingte Ansichten, sondern um ganz zentrale Fragen und wegweisende Entscheidungen. Auch geht es nicht nur um wichtige und richtige Strukturanpassungen (Präventionskonzepte, rechtsverbindliche Vorschriften, Schaffung von Anlaufstellen, erstellen einer Interventionsordnung) oder um kirchenpolitische Korrekturen. Theologie und Kirche sind vielmehr herausgefordert, sich selbst ganz grundsätzlich, radikal, zu prüfen ("ecclesia semper reformanda").

Spiritueller Machtmissbrauch erschüttert bisherige theologische Gewissheiten und kirchliche Gewohnheiten, weil Menschen im Namen Gottes und der Kirche oder mit Hilfe kirchlicher Strukturen, Rituale und Praktiken anderen Menschen manipulieren und Leid zufügen. Sie werden damit in ihrer Personenwürde verletzen und erleiden oft schwere und nachhaltige Schädigungen.

"Die Förderung theologischer Sprachfähigkeit, religiöser und liturgischer Mündigkeit und spiritueller Eigenständigkeit von Christinnen und Christen ist zugleich Präventionsarbeit gegen geistlichen Missbrauch."

Heinrich Timmerevers, 2020

Die Theologie kann nicht achtlos daran vorbeigehen, wenn im Namen der Kirche und mit Hilfe (scheinbar) theologischer Argumente Unrecht geschieht. Auch ist eine Delegation nach Außen (Therapie, Beratung, Juristen, Strafverfolgung) nicht ausreichend, wenn es doch um Kernfragen der Theologie geht: Weder Polizei noch Staatsanwaltschaft, nicht einmal Beratung oder Therapie sind für diese Fragen zuständig. Vielmehr sind alle theologischen Disziplinen aufgefordert, die eigenen Inhalte und Methoden daraufhin kritisch zu prüfen, ob und inwieweit sie sich für Spirituellen Machtmissbrauch entfremden lassen. In Anlehnung an Johann Baptist Metz wäre zu fragen: Wie heute von Gott reden angesichts von Sexuellem Missbrauch und Spirituellem Machtmissbrauch!? An einigen konkreten Beispiele soll verdeutlicht werden, was es heißt, Spirituellen Machtmissbrauch theologisch "durchzudeklinieren":

Die Dogmatik hat z.B. die verschiedenen Gottesbilder auf ihre Anfälligkeit für Entfremdung zu prüfen und deren jeweiliges Verhältnis zum Menschenbild. 
Anthropologische Fragen nach der Freiheit des Individuums, nach den vorherrschenden Rollenvorstellungen sind genauso wichtig wie die Prüfung von verkündeten Weltbildern (dualistische Grundhaltungen, exklusivistische Überzeugungen, Weltflüchtigkeit). Soteriologisch kann man den Zusammenhang von Heil und Heilung unter die Lupe nehmen oder die Verkündigung von Drohbotschaften anstelle von Frohbotschaften. In der Ekklesiologie warten Fragen nach dem Amtsverständnis (Priesterbild) und Begriffe wie Hirt - Herde, Stellvertretung, Jurisdiktion oder Primat auf ihre Bearbeitung.
Überhaupt sind Formeln und Begriffe daraufhin zu überprüfen, wieweit sie eine positiv-konstruktive Spiritualität fördern helfen, wieweit sie heute anschlussfähig sind, aber auch 
wie viel Missbrauchspotential in ihnen stecken könnte: Gnade, Buße, Schuld, Hochmut, Erlösung, Natur, Gotteskindschaft, Versuchung, Demut, Geißelungen und Demütigungen; Gehorsam; Wille Gottes oder Vorstellungen vom "Leid als Prüfstein" und deren  jeweilige Verwendungszusammenhänge kritisch zu hinterfragen. In der Moraltheologie wird man erörtern müssen, welche verändernde Wirkung Spiritueller Machtmissbrauch auf sensible Themen hat (Sexualitäten; Gender-Fragen; Rigorismus - Perfektionismus). Die Liturgiewissenschaften wie die Pastoraltheologie müssen z.B. Gebetstexte und Lieder, Formen von Gottesdienst und Ritualen, Vorstellungen von Seelsorge daraufhin analysieren, ob und wie sie sich verunstalten lassen für Manipulation und Machtdemonstration. Das Kirchenrecht hat bisher die Problematik des Spirituellen Machtmissbrauchs nicht aufgegriffen und auch die jüngsten Reformen des kirchlichen Strafrechts bleiben seltsam schweigsam. 

Theologie braucht einen fundamentalen Reset

Spiritueller Machtmissbrauch ist also kein weiteres zusätzliches Thema, quasi ein Spezialthema (ein weiterer Traktakt in Ergänzung zu den klassischen theologischen Traktaten), das einzelne theologische Fächer zu bearbeiten hätten, sondern ist eine radikale Frage, die jede theologische Disziplin trifft, die jeden Theologen und jede Theologin beunruhigen und verändern muss.  


Mit den theologischen Wissenschaften ins Gespräch kommen

Hilfreich können Gesprächsrunden und Tagungen sein, die zum Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis einladen und bei denen Betroffene Gehör finden.

Durch gezielte Förderung von Promotionsthemen und Magisterarbeiten in allen theologischen Disziplinen kann das Verstehen vertieft und eine allgemeine Sensibilisierung erreicht werden.