Erzdiözese München und Freising
Fachbereich Weltanschauungsfragen
Informationen zu Geistlichem Missbrauch

Einige Gedanken zur Aufarbeitung

Spiritueller Machtmissbrauch führt bei vielen Betroffenen zu einer nachhaltigen Vertrauenskrise und nicht selten auch zu einer Vergiftung der persönlichen Gottesbeziehung. Sinnfragen, spirituelle Orientierungslosigkeit und psychische Probleme können schwerwiegende Folgen sein, die auch alltägliche Lebensvollzüge beeinträchtigen.
Gleichzeitig beschädigt jeder Spirituelle Machtmissbrauch auch die Gemeinschaft der Glaubenden: sowohl die institutionell verfasste Kirche als auch der gelebte Glaube, sowohl Tradition und Geschichte als auch lebendige Gegenwart und hoffnungsvolle Zukunft werden in Mitleidenschaft gezogen. Gerade wenn es sich nicht um Einzelfälle handelt sondern um z.T. jahrelange und viele Menschen betreffende Fehlentwicklungen, ist ein umfassenderer Aufarbeitungsprozess unumgänglich, wobei der Aufwand (zeitlich, personell, finanziell) immer auch abhängig ist von Datenlage, Zeitraum und Gesamtsituation.
Aufarbeitung führt leider nicht zwangsläufig zu einer "Lösung", die alle Seiten akzeptieren können oder gar miteinander versöhnt. Eine "Lösung" ist häufig leider nicht möglich zu finden. Dennoch gilt es, mit Blick sowohl auf die Betroffenen wie auch mit Blick auf die Kirche als Gemeinschaft von Glaubenden, geschehenes Unrecht zu benennen, Missstände zu beseitigen und nicht nur nach Recht sondern auch nach Gerechtigkeit zu streben.

Unsere Beratungsstelle sowie andere Anlauf- und Clearingstellen nehmen diese Aufgabe in erster Linie für die einzelnen Themen- und Konfliktfelder wahr. Betroffene suchen Rat und Informationen, wollen gehört werden und wünschen sich eine spürbare Veränderung der Situation. Einige Betroffene suchen nach einer individuellen Aufarbeitung ihrer Erfahrungen, andere brauchen Hilfe beim Ausstieg aus einer Gemeinschaft. Die einen suchen Unterstützung bei der spirituellen Neuorientierung, andere haben Probleme, sich in Kirche und Gesellschaft wieder einzugliedern. Wieder andere erwarten eine Entschuldigung und fordern Rechenschaft von den Verantwortlichen.
- Zu den Hinweisen für eine qualifizierte Beratung siehe "Unsere Beratung"

Intervention und Prävention zielen vor allem darauf ab, Missstände in der Gegenwart abzustellen und grundsätzlich für die Zukunft zu lernen. Aber gerade da, wo es über viele Jahre Spirituellen Machtmissbrauch gegeben hat, wo viele Betroffene auch lange nach ihrem Ausstieg leiden und wo die quälenden Fragen nach dem Wie und Warum nicht gestillt werden können, bedarf es einer umfassenden Aufarbeitung. Gerade dann, wenn man kirchlichen Institutionen und Verantwortungsträgern schwerwiegende Fehler unterstellen könnte, sei es durch Wegschauen, Nichtreagieren oder Bagatellisieren, sei es durch bewusstes oder achtloses übergriffiges Handeln, braucht es grundlegende Untersuchungen:
Erst wenn das, was geschehen ist, gesehen wird, erst wenn die Betroffenen mit ihren (leidvollen) Erfahrungen wahrgenommen werden, erst wenn das Geschehene als Spiritueller Machtmissbrauch benannt wird, können Gerechtigkeit und Friede einkehren, können wirksame Konsequenzen gezogen werden.

1. "Aufarbeitung" ist nicht gleich "Juristisches Gutachten erstellen"

Es gibt verschiedene Aufarbeitungskonzepte und auch die Ziele, die man mit einem solchen Prozess verfolgt, können ganz unterschiedlich sein. Gerne werden Juristen damit betraut, die Unterlagen (Personalakten, Aufzeichnungen) zu sichten sowie die involvierten Parteien (mögliche Täter:innen, mögliche Betroffene, mögliche Zeugen) zu befragen. Am Ende dieser wichtigen und richtigen Verfahren stehen Gutachten, die aus einer eher juristischen Perspektive Vorgänge aufzeigen  und bewerten.
Die Erfahrung zeigt jedoch, dass eine rein juristische Aufarbeitung nur der Anfang eines umfassenderen Prozesses sein kann. Da gerade beim Spirituellen Machtmissbrauch die enge Verzahnung von religiös-spirituellen Themen mit strukturell-persönlichen Faktoren kennzeichnend ist, gehören zeitgeschichtliche, psycho-soziale und organisationstheoretische Perspektiven ebenso berücksichtigt wie theologische und spirituelle Fragestellungen.

2. Aufarbeitung als interdisziplinäres Projekt

Der Prozess der Aufarbeitung ist daher unbedingt interdisziplinär durchzuführen. Jede wissenschaftliche Disziplin hat ihre eigenen Methoden, stellt spezielle Fragestellungen und betrachtet die Zusammenhänge aus einer je anderen Warte. Nicht nur bei länger zurückliegende Vorfälle können Historiker bei der Recherche, der (historischen) Einordnung und der Auswertung von Dokumenten und Berichten helfen. Da bei Fragen des Spirituellen Machtmissbrauchs immer auch religiöse Themen relevant sind, braucht es die Expertise von Theologie bzw. Religionswissenschaften. Die Psychologie untersucht nicht nur persönlich-individuelle Eigenheiten, sondern kann auch Mechanismen des sozialen Ganzen analysieren helfen und bekommt dabei Unterstützung aus der Soziologie. Eine rechtliche Würdigung geht im Rahmen eines Aufarbeitungsprozesses über das Aktenstudium hinaus und prüft z.B. die unterschiedlichen rechtlichen Ansprüche, die aus den Vorgängen erwachsen können.

3. Unabhängigkeit und Ergebnisoffenheit 

Bei der Aufarbeitung von (Macht)Missbrauch kommen meist viele belastende und fragwürdige Dinge zum Vorschein. Personen und Institutionen sind z.T. über Jahrzehnte verstrickt. Um so wichtiger ist es, dass die Aufarbeitung organisatorisch und finanziell absolut unabhängig ist und sich streng den Maßstäbe wissenschaftlichen Arbeitens unterwirft. Ergebnisoffenheit ist genauso selbstverständlich, um eine möglichst hohe Akzeptanz zu erzielen, wie Transparenz in allen Bereichen des Aufarbeitungsprozesses gewährleistet werden muss (wobei Transparenz nicht bedeutet, dass Persönlichkeitsrechte oder andere vertrauliche Daten missachtet werden dürfen).

4. Aufarbeitung niemals ohne Betroffene

Aufarbeitung, die sich als Dienst an der Gerechtigkeit versteht, gelingt nur, wenn die Betroffenen von Anfang an gleichberechtigt mitwirken an Konzeption und Durchführung des Prozesses. Ebenso selbstverständlich ist die konstruktive Unterstützung aller Verantwortungsträger; ohne entschlossene Bereitschaft der religiösen Institutionen und Gemeinschaften (der Bistümer und (Ordens-)Gemeinschaften), Ressourcen zur Verfügung zu stellen und proaktiv mitzuarbeiten, bleibt Aufarbeitung Stückwerk, droht weiterer dauerhafter Schaden für die Betroffenen wie für die Kirche und vergibt man wichtige Zukunftschancen.

5. Aufarbeitung ist nicht generell möglich

Selbstverständlich finden sich überall gleiche Mechanismen des Machtmissbrauchs, sind psychologische und soziale Faktoren ähnlich und miteinander vergleichbar. Dennoch kann es keine generelle Aufarbeitung geben, kann nicht eine einzige Kommission verantwortlich sein für doch sehr unterschiedliche Vorgänge in (eigenständigen) Vereinen, Gemeinschaften und Institutionen. Genauso wenig gibt es "allgemein Betroffene": Was Betroffene in der einen Organisation erlebt und erlitten haben, ist nicht zu verwechseln oder zu vergleichen mit dem, was andere Betroffene in anderen Organisationen und Gemeinschaften erlebt und erlitten haben - zu unterschiedlich können handelnde Personen, religiös-weltanschauliche Überzeugungen oder gruppendynamische Prozesse sein. Das Wissen um typische interne Vorgänge, die Kenntnis von Personen und Strukturen, ein Verständnis der jeweils zu Grunde liegenden ideologischen und spirituellen Überzeugungen ist daher unabdingbar, um eine Aufarbeitung sinnvoll und grundlegend durchführen zu können. Gerade bei größeren Missbrauchskomplexen ist eine eigene und eigenständige Aufarbeitung notwendig. 

6. Aufarbeitung kann Not wenden und dennoch enttäuschen

Abschließend sei noch auf einen problematischen Sachverhalt hingewiesen. Aufarbeitung bedeutet einen langwierigen Prozess zu beginnen. Geduld und Ausdauer werden von allen Beteiligten abverlangt. Gleichzeitig sind die gemachten Erfahrungen und persönlichen Sichtweisen, die Vorstellungen, wie der Aufarbeitungsprozess zu erfolgen habe und sind die Ziele, die verfolgt werden sollen, höchst unterschiedlich. Diskussionen und Konflikte sind nahezu vorprogrammiert und selten sind am Ende eines Aufarbeitungsprozesses alle Seiten gleichermaßen zufrieden. Dennoch gibt es keine Alternative zur Aufarbeitung, wenn man den Betroffenen ihre Würde und ihren Frieden zurückgeben möchte und wenn man Gerechtigkeit wiederherstellen möchte.  

7. Keine Zeit verlieren

Bei der Bekämpfung von (Macht)Missbrauch und bei der Aufarbeitung von Fehlentwicklungen geht es nicht um historische oder institutionelle Fragen, sondern es geht um Menschen, deren Vertrauen missbraucht wurde, die irre geführt wurden und die man verletzt hat. Aufklärung und Wiedergutmachung sind das Mindeste, was man den Betroffenen geben kann. Dies hat so schnell wie möglich und so gründlich wie nötig zu erfolgen. 

Wir alle haben nur eine sehr beschränkte Lebenserwartung und daher gilt: Hinauszögern oder auf lange Verwaltungswege vertrösten ist ein fundamentaler Verstoß gegen Menschenrechte und ein unzulässiges Verspielen von Lebenszeit und Lebensperspektiven der Betroffenen.